Das Haus des Küfers

Sailach 2008 und das Rätsel um das alte abgebrannte Haus

Ich bin Paul. Ich war zwölf Jahre alt als es passierte. Oft bin ich ziemlich traurig deswegen und du kannst mein Wehklagen durch den ganzen Wald hören oder ich flüstere den Leuten leise meine üble Geschichte ins Ohr. Vielleicht kann mir nach all der langen Zeit doch noch Gerechtigkeit widerfahren, doch dafür brauche ich einen Lebenden, der mir Glauben schenkt und helfen möchte.

Kennst du das Gefühl, wenn du durch den Wald gehst und ein leichter Windhauch weht durch die Blätter und in dem Rascheln glaubst du, Wörter zu erkennen? Erst scheint es eine Einbildung zu sein, doch wenn du genau hinhörst, kannst du Worte erkennen. Am Anfang undeutlich; ist es Fantasie? Oder doch eine Stimme, die dir erzählt, was damals passiert ist? Das bin ich. Paul. Mein Grabstein steht oben am Eck, am Ende der Lichtung. Ich bin damals aber nie wirklich begraben worden. Mir wurde ein christliches Begräbnis verwehrt, weil niemand meine Leiche je gefunden hat.

Und seither streife ich durch die Wälder des Fürstentums um eine gute Christenseele zu finden, die meine Worte versteht.

Am Anfang des Jahrhunderts begab es sich, dass sich der hohe aus Südfrankreich kommende Adelige Graf Johann-Werner von Lyon auf einer seiner Reisen in die wunderschöne Tochter des hiesigen Fürsten zu Hohenlohe unsterblich verliebte. Zu jener Zeit war es üblich, dass die Töchter hoher Häuser auch gegen ihren Willen verheiratet wurden. Der Graf war aber eigentlich ein sehr anständiger Kerl und unternahm er alles, um ihr Herz für sich zu gewinnen.

Die Prinzessin liebte es schon als kleines Kind durch die Wälder zu ziehen und die Natur rundherum zu genießen. Sie war nun gar nicht, wie es sich für eine Prinzessin geziemte, immer lieb und höflich, und spielte auch nie mit Puppen. Stattdessen flog, rannte, hüpfte, sprang sie lieber durch die Wälder und genoss es, den ach so wunderschönen Geruch, die Geräusche und den weichen Waldboden unter ihren Füßen zu spüren oder einfach nur in einem der wundervoll friedlichen Seen zu baden. Sie mochte es auch sehr, sich mit den gewöhnlichen Menschen des Dorfes abzugeben. Und wie sollte es anders kommen? Sie verliebte sich in Walter, den Küfer zu Winterrain, der unterhalb ihrer Sommerresidenz, gleich neben dem Weiher, seine Werkstatt hatte.

Die Sommerresidenz stand – nein, ich muss genauer sein: steht heute noch – auf einer Anhöhe, direkt am Waldrand und bietet einen beschaulichen Blick auf den Weiher. Am unteren Ende des Residenzhügels stand Walters einfaches Haus, das gleichzeitig seine Küferswerkstatt war und Ort eines grässlichen Verbrechens werden sollte.

Am Morgen jenen Tages also, an dem die Prinzessin nun mit dem Grafen vermählt werden sollte, war sie – wie sollte es anders sein – sehr, sehr unglücklich. Da sie nun keine Wahl hatte und der Graf zumindest ein anständiger Kerl war – es hätte schlimmer kommen können – gab sie ihm unter Tränen das Ja-Wort und schwor gleich darauf, dass ihr Herz für immer für ihren tapferen, gutaussehenden Küfer schlagen würde. Mit der Hochzeit gingen die Besitztümer und auch die Wälder auf den Grafen über und die Namen der beiden verschmolzen in der für diesen Stande üblichen Form. Der Graf lebte von nun an mit seiner Prinzessin im Schlosse zu Hohenlohe-Lyon.

Johann-Werner von Lyon spürte, dass ihr Herz für einen anderen schlug, doch wusste er nicht, welcher Mann es seiner Prinzessin unmöglich machte, ihn zu lieben. Sobald er wusste, welcher Mann dafür verantwortlich war, konnte er Maßnahmen einleiten. Du musst wissen: so gutherzig der Graf war, so entschlossen konnte er sein! Und er war sich sicher, dass sich seine Prinzessin sofort in ihn verlieben würde, nachdem er das Problem gelöst hätte.

Im Dorf war Graf Johann-Werner von Lyon nur wenig beliebt. Kannten ihn die Leute doch erst seit kurzem und auch nur von seiner von Eifersucht getriebenen Suche nach dem Mann, der seine Frau davon abhielt, ihn zu lieben. So ergab es sich, dass die Leute im Dorf den Grafen recht respektlos einfach Hans-Werner Lyoner nannten, was später zu Hans W. Lyoner-Wurst wurde und noch später zu Hans Wurst. Hans Wurst verdächtigte alles und jeden, doch die Dorfgemeinschaft hielt zusammen. Bis auf eine Ausnahme.... Und darum war Hans Wurst auf dem richtigen Weg.

Wer meine Eltern waren, das weiß niemand, nicht einmal ich. Meine ersten Erinnerungen hatte ich an Walter, den Küfer, der mir erklärte, er habe mich eines Nachts vor seiner Haustür gefunden und mich zu sich aufgenommen. Er war wohl so etwas wie mein Vater. Ich war ihm sehr dankbar und arbeitete deswegen hart für ihn; und bei ihm in die Lehre zu gehen, war kein Zuckerschlecken.

Auch Metzger Schmauder aus dem Dorf bestellte bei Walter seine Fässer, obwohl er den Küfer nicht ausstehen konnte – aber Walter war nun mal der einzige Küfer vor Ort.

Das Schmaudersche Geschlecht ist auch heute noch sehr berühmt. Nachdem dann später mit Einführung der Republik die Adlesprivilegien aufgehoben wurden, wurde aus dem Hause zu Hohenlohe-Lyon, wie aus vielen andern Adelshäusern auch, ein handwerklicher Betrieb; in diesem Falle eine sehr erfolgreiche Metzgerei, die die berühmte Hohenloher Wurst exklusiv herstellt und mit Einheirat in das Schmaudersche Geschlecht ein Wurstimperium aufbaute, das noch heute berühmt ist. Diese Metzgerei gibt es heute noch, sie heißt – durch verschiedene Verheiratungen und so weiter – heute wieder Schmauder; und jeder in Untersteinbach weiß: „Dr Schmauder isch zwar a weng arch deier; hod abor a guude Woar!“

Anfangs dachten sich die Leute nicht viel, wenn der Schmauder nach drei Zitronentee wild über Walter herzog, irgendwann aber begannen die Leute zu reden und ein Gerücht kam auf, auch der Schmauder sei heimlich in die Prinzessin verliebt.

In seiner rasenden Eifersucht erkundigte sich Graf Hans Wurst auch beim Metzger und ich kann nur spekulieren, was damals passierte, als sich zwei wütende, zu allem entschlossenen Männer zusammentaten, um dem gemeinsamen Feind Rache zu tun. Ich weiß nicht wirklich, wie es war, denn auch als körperlose Seele hat man keinen Einblick in die Vergangenheit und aus irgendeinem Grund fehlt mir auch die Erinnerung, an das was dann geschah. Vielleicht, weil alles so ... schrecklich war.

Meine Erinnerung reicht bis zu jenem Zeitpunkt in der Nacht, an dem ich durch Fackelschein geweckt wurde. Mein Schlafplatz war unten in der Küferswerkstatt, während Meister Walter oben in einer behaglichen Wohnung lebte. Ich wusste, dass nun etwas Schreckliches geschehen würde. Im Licht der Fackeln konnte ich die wutverzerrten Gesichter des Metzgers und des Grafen sehen, wie sie näher und näher kamen. Ich versteckte mich in einem der Fässer und harrte der Dinge. Als die beiden wütenden Bösewichte begannen, die Fässer herauszurollen, verlor ich das Bewusstsein.

Nun... niemand weiß, wie ich in diese Welt kam und niemand weiß bis zum heutigen Zeitpunkt, wie ich sie verlassen habe. Und so lange dieser Fluch auf mir liegt, werde ich wohl durch die Wälder ziehen und mit dem Wind und den Bäumen wehklagen.

Als meine Erinnerung wieder einsetzte, war ich bereits zur Seele geworden. Doch wo war mein Körper? Wie bin ich gestorben? Die ganze Küferei brannte lichterloh und lag kurz darauf in Schutt und Asche. Die Ruine steht heute noch unterhalb der ehemaligen Sommerresidenz am Weiher. Zur Sicherheit musste sie eingezäunt werden, weil auch der Geist des toten Küfers dort noch spuken soll. Manchmal höre ich ihn, wie er sein trauriges Lied singt.

Noch schlimmer aber traf es die sonst so lebensfrohe Prinzessin, aus der aller Lebensmut, alle Freude komplett entwichen zu sein schienen. Keine Woche nach dem Brand in der Küferei ertrank sie unter mysteriösen Umständen im Weiher und auch ihr letzter Schrei, ihr letzter Atemzug hallt heute noch im Wald so schrecklich, dass er schon manchen Grafen den Schlaf kostete.

Damit meine Seele endlich Ruhe finden kann, unter jenem Grabstein am Ende der Lichtung, muss ich – so will es ein altes Naturgesetz – eine gute christliche Seele finden, der ich meine Geschichte flüstern kann und die Willens ist, meine sterblichen Überreste für mich zu finden. Hör genau hin, wenn die Bäume rascheln. Das bin ich. Paul.